· 

Zehn vergessene Autorinnen im Porträt - ein Gastartikel von Celina Stehr

Wenn die Rede von Klassikern aufkommt, man sich mit den prägenden Autor:innen der Literaturgeschichte auseinandersetzt oder einfach kurz an die Zeit in der Schule zurückdenkt, wird deutlich: unsere Lektüren sindweiß und vor allem männlich geprägt. Selbst im Studium der Literaturwissenschaft geht nichts über Aristoteles, Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich von Kleist - Autorinnen sucht man leider (immer noch) vergeblich. Die Paradeaussagen sind auch immer noch, Frauen hätten damals nicht so viel geschrieben, doch das ist nicht richtig, nur die Frage wer den Fokus setzt – Männer – lässt das Problem deutlich werden. In diesem Beitrag möchte ich euch einige Autorinnen vorstellen, die verdrängt und vergessen wurden und an die wir uns wieder erinnern müssen.

  • Roswitha van Gandersheim (Hrotsvit) (~935 – 980) war eine der ersten bedeutendsten Autorinnen des Mittelalters. Sie lebte als Kanonisse in einem Stift – also einer religiösen Lebensgemeinschaft für Frauen – und lernte dadurch die „Sieben Künste“ – Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Grammatik, Dialektik und Rhetorik. Ihre Werke beziehen sich auf christliche Legenden, Dramen, historische Texte und die Gründungsgeschichte des Stifts in Gandersheim.
    Vor allem ihr "Dramenbuch" (965) sollte als christliche Alternative zu Terenz – berühmter Komödiendichter der römischen Antike – dienen, denn ihr Fokus lag auf der Keuschheit von Jungfrauen. Dennoch sind ihre Texte kaum erhalten, obwohl sie als Verkörperung von humanistischen Bildungsidealen stand. 
  • Christine de Pizan (1364 – 1429) war eine der ersten Autorinnen der französischen Literatur, die finanziell unabhängig schreiben konnte. Ihr Werk "Das Buch von der Stadt der Frauen" ist Auslöser für „Querelle des Femmes“ – die Debatte über die Geschlechterordnung des Spätmittelalters –  und ist eine Reaktion auf die gesellschaftliche Sicht auf die Frauen, sowie eine Kritik an den Aussagen von Gelehrten über das weibliche Geschlecht.
    Mit ihrem Werk schaffte sie einen Entwurf für eine sichere Stadt für Frauen mit der Intention des Selbstständigkeitsaspektes, der Freiheit aller Menschen. In weiteren Werken schreibt sie über das Leben als Frau, reagiert auf politische Geschehnisse in Frankreich und 1399 verfasst sie eine Kritik über die Misogynie, die von den Männern in ihrem Umfeld ausgeht. Mit ihren Ansichten beeinflusst sie die Gesellschaft, die Literatur- und Sozialwissenschaft nachhaltig. 
  • Aphra Behn (1640 – 1689) war die erste öffentlich auftretende Berufsschriftstellerin Englands und wurde mit dem Schreiben finanziell unabhängig. Ihr war diese Unabhängigkeit besonders wichtig, da die finanzielle Absicherung durch eine Ehe eine „Form von Prostitution“ darstellen würde. Sie arbeitete als englische Spionin in den Niederlande und provozierte später mit ihrer unvoreingenommenen Art und Direktheit in politischen Kreisen. Sie schrieb Sittenkomödien, Prosa, Gedichte und Theaterstücke, wie "The Forced Marriage" (1670). In ihren Werken übt sie Kritik an der Doppelmoral der Gesellschaft, aber auch an der Resonanz des Publikums auf ihre Werke. Behn polarisierte und lehnte sich gegen die Sittsamkeit auf, doch die Abwertung, Benachteiligung, Unterdrückung und Marginalisierung verhindern, dass Behns Werke kanonisiert wurden. 
  • Sophie von LaRoche (1730 – 1807) war eine der ersten erfolgreichen Romanautorinnen und steht für einen Wendepunkt der weiblichen Literaturgeschichte. Ihr Roman "Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim" (1771) zählt als erster deutscher Briefroman. Sie veröffentlich auch Reisetagebücher, gründet die erste deutsche Zeitschrift von und für Frauen "Pomona für Teuschlands Töchter" – ein philosophischen Bildungs- und Aufklärungsmagazin - und ist für das gelehrte Frauenzimmer adressiert. Ihre Reichweite verschafft ihre 1771 einen literarischen Salon in Koblenz. 
  • Rahel Varnhagen (von Ense) (1771 – 1833) war Schriftstellerin und Salonnière und setzte sich maßgeblich für die jüdische und weibliche Emanzipation ein. Ihr literarischer Fokus lag auf Tagebucheinträgen, Essays, Aphorismen und Briefen, sowie einigen Gedichten. Ihre Texte wurden über Dritte in Zeitschriften veröffentlicht und thematisierten die Wahrnehmung des Erfahrens von Ausgrenzungen und des Fremdheitsgefühl in der Gesellschaft. Einen weiterer Einfluss hatte sie durch ihren Salon wo Treffen von Dichter:innen, Naturforscher:innen, Politiker:innen und Aristokrat:innen mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen, Weltanschauungen und Ständen abgehalten wurden. Die Intention und Ideal der Treffen war immer die Emanzipation.
  • Bettine/a von Arnim (1785 – 1859) ist vor allem durch mehrere Briefaustauschs mit Karoline von Günderrode, Johann Wolfgang von Goethe oder Clemens Brentano bekannt. Denn ihre Briefe bildeten die Grundsätze für unser heutiges Verständnis von romantischer Poetik und haben unsere Sprache geprägt.  In der Erzählung "Die Günderrode" bespricht sie die Freundschaft zu Karoline von Günderrode und verarbeitet ihren Freitod. Neben der Zugänglichkeit zur emotionalen Ebene in der Literatur, stand sie für ihre eigene Bildung ein, sowie für die allgemeine Emanzipation. Indem sie gemäß ihrer Persönlichkeit und ihres Wesens und nicht ihres Standes handelte überschritt sie die Grenzen, die ihrem Geschlecht zur damaligen Zeit aufgelegt wurden. 
  • Gabriele Reuter (1859 – 1941) war eine Autorin, die zu ihrer Zeit viel gelesen und rezipiert wurde, heute jedoch fast vergessen ist. Sie schrieb vor allem weibliche Bekenntnis- und Selbstfindungsromane, welche eine kritische Reflexion des Weiblichkeitsbildes des 20.Jahrhunders zeichnet. Sie fokussiert sich auf die soziale Rolle der unverheirateten und schwangeren Frau und wie diese im Patriarchat ihrer Zeit verstoßen wurde. Ihre ersten Werke wurden in der Lokalzeitung abgedruckt und prägten ihren Werdegang, indem ihren Forderungen nach Reform der bürgerlichen Erziehungsmoral für ein soziales Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern ein Gehör verschafft wurde. In ihrem Werk "Aus guter Familie" entwirft sie ein Frauenbild, das eine fremdverordnete häusliche Sphäre und die bürgerliche Doppelmoral ablehnt und ein freies künstlerisches Leben fordert. 
  • Charlotte Perkins Gilman (1860 – 1935) war Autorin, Journalistin und Rednerin. Mit ihrer Zeitschrift Forerunner machte sie auf die Frauenbefreiung und den Wunsch nach Freiheit aufmerksam. Mit ihrem Roman "Die gelbe Tapete" thematisiert sie die Auswirkungen und Behandlungsarten von Depressionen, indem ihre Protagonistin mit Zwangsruhe in den Wahnsinn getrieben wird. Gilman kritisiert damit die gesellschaftlichen Strukturen, aber besonders die patriarchalen Medien, den Umgang mit psychischen Krankheiten und die sexuelle Unterdrückung. Sie eröffnete damit einen neuen Kontrast in einem weiblich-männlichen Diskurs von traditioneller hinzu einer neuen Art des weiblichen Schreibens. 
  • Marie Luise Kaschnitz (1901 – 1974) war Autorin und schrieb über Kriegserfahrungen, vor allem in Form von Essays, Erzählungen und Gedichten. Sie schilderte ihre persönlichen Eindrücke der Zeit und Krankheit, Tod und die Entfremdung des eigenen Ichs waren wiederkehrende Thematiken bei Kaschnitz. In ihrer Erzählung "Neue Prosa" (1970) stellt sie Überlegungen eines Individuums auf und beruft sich auf eine starke Differenzierung der Wirklichkeit und der eigenen Identität – wodurch eine neue Sprache und Perspektive auf die Weiblichkeit in nüchterner Art und Weise entstehen kann.
  • Marlene Haushofer (1920 – 1970) veröffentlichte zunächst kleine Erzählungen in Zeitschriften und ihr erster Erfolg erreichte sie mit der Novelle Das fünfte Jahr (1952), da besonders die nüchterne Sprache geschätzt wurde. Ihr bekanntestes Werk "Die Wand" (1963) wurde lange vergessen, doch Dank der Verfilmung und feministischer Arbeit wurde ihre Arbeit wieder mehr in den Fokus geholt. Ihre Texte setzen sich vor allem mit der Rolle der Frau in einer patriarchale Gesellschaft auseinander und setzen die Grenzen zwischen Traum, Trauma und Tatsachen in Szene. 

All diese Autorinnen haben gemeinsam, dass sie sich gegen die gesellschaftlichen Situation des Patriarchats wehren und Forderungen nach Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmungsrecht stellen und sich für weibliche Sichtbarkeit einsetzen. Sie kämpfen für in ihrer Zeit relevante Themen, die als Baustein für die folgende Generationen dienen. Mit ihren Werken prägen sie nicht nur die Literaturgeschichte, sondern beeinflussen auch unser heutiges Verständnis der damaligen Zeit. Ihre Sichtweisen, Interpretationen und Kritiken sind essenziell für die Wahrnehmung und Reflexion der Vergangenheit, denn sie repräsentieren unterschiedliche Stände, Gesellschaftsschichten und politische Haltungen. 


Diese zehn Autorinnen sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, der eine weiteren Auseinandersetzung, Entdeckung und Erhaltung von Autorinnen fordert. 


Eine große Leseempfehlung geht dabei an "(FRAUEN)LITERATUR" von Nicole Seifert, die sich ausführlich mit einigen dieser Autorinnen und der Thematik von vergessenen weiblichen Stimmen auseinandergesetzt hat. 

 

 

 

 

Dies ist ein Gastartikel von Celina Stehr. 

Folge ihr auf ihrem Instagram-Kanal @literatur_unterwegs.